Wien Informell
Informelle Stadtproduktion 1945-1992
- Projektlaufzeit
- März 2021 bis Mai 2023
- Projektleitung
- Projektteam
- Friedrich Hauer
- Andre Krammer
- Thomas Bozzetta
- Projektnummer
- 18584, Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank
- Bild
- © Stadt Wien
Weite Teile der Randzonen des Wiener Stadtgebiets werden noch heute von vormals informellen, „wilden“ Siedlungsstrukturen geprägt. Seit den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs sind in mehreren Wellen spontane, existenzieller Not entsprungene „Bretteldörfer“ entstanden. Ein Phänomen, das die formelle Stadt, ihre Planungsinstrumente und Institutionen herausforderte. Diese sozialgeschichtlich wie städtebaulich bedeutende Entwicklungsschicht der Stadt wurde bislang nicht umfassend erforscht, ja kaum jemals thematisiert. Insbesondere die Zeit nach 1945, als es nach einem neuerlichen, kriegsbedingten Schub informeller Siedlungstätigkeit zu einem umfassenden Formalisierungsprozess kam, ist bisher kaum beleuchtet worden. Der „Baurechtliche Sanierung“ genannte Prozess beschäftigte die Wiener Stadtverwaltung bis in die 1990er-Jahre, seine Folgen bis heute. Das Forschungsvorhaben untersucht diese Stadtproduktion „von unten“ im Zeitraum 1945–1992 sowohl räumlich-quantifizierend als auch qualitativ im Sinne einer Analyse des öffentlichen Diskurses und der fachlichen Debatten. Das Projekt sieht sich gleichermaßen als Betrag zur Erforschung der Wiener Stadt(planungs)geschichte und zur breiteren Diskussion eines „hands on urbanism“
Projektergebnisse
Die Ergebnisse von „Wien Informell“ geben erstmals einen Überblick über die Konjunkturen des „wilden“ Siedelns in Wien seit 1918. Quantitative und qualitative Recherchen wurden verbunden, um die Bedeutung der informellen Stadtproduktion für die Stadtentwicklung zu beleuchten. Ab 1945 begann sich auch die Stadtplanung intensiv mit dem „Problem der wilden Siedlung“ und den peripheren „Kampfzonen zwischen Stadt und Land“ auseinanderzusetzen. Der Planungsdiskurs und die daraus abgeleiteten Umgangsformen wurden im Projekt analysiert.
Die Erkenntnisse aus der Analyse der Entwicklungsphasen im Zeitverlauf (Periodisierung) wurden zeithistorisch kontextualisiert, quantifiziert und u.a. mit der formellen Stadt- und Wohnraumproduktion in Beziehung gesetzt. Daraus wird ersichtlich, dass die „wilden“ Siedlungen ein Massenphänomen darstellten, das dauerhaft dazu beitrug, die „Wohnungsfrage zu beantworten“. Das „wilde“ Wien reduzierte in erheblichem Ausmaß den Entwicklungsdruck, dem sich das „Rote“ Wien in den beiden Nachkriegszeiten ausgesetzt sah.
Zudem wurde ein Schema für die systematische Unterscheidung von Graden der Informalität entwickelt, das sowohl rechtliche als auch urbanistische Parameter einbezieht. Dies erlaubt die Identifizierung von Grundtypen informeller Siedlungen und die Rekonstruktion von Stufen im Formalisierungsprozess.
Ein gesamtstädtischer Plansatz der „wilden“ Siedlungen in Wien um die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde auf GIS-Basis erstellt (Kartierung der Zustände 1938, 1956, 1976, 1992, 2020), flächenmäßig ausgewertet und mit der gegenwärtigen Nutzung bzw. Flächenwidmungen abgeglichen. Die Daten stellen gegenüber dem bisherigen Forschungsstand eine wesentliche Präzisierung (parzellenscharfe, georeferenzierte Neuzeichnung) und Korrektur (für bislang nicht oder ungenau erfasste Bereiche) dar. Sie erlauben es zudem, das Phänomen der informellen Stadtentwicklung in ein räumlich-morphologisches wie quantitatives Verhältnis zur konsolidierten Stadt zu setzen und seine Bedeutung für die Suburbanisierung seit dem Ersten Weltkrieg einzuschätzen: Bis 1956 hatte die spontane „Stadt der Siedler und Gärtner“ (Siegfried Mattl) mehr als 43 km² peri-urbanes Terrain besetzt und umgestaltet. Informelle Siedlungen entstanden vor allem auf parzellierten landwirtschaftlichen Flächen im Osten und Süden, in den Randzonen konsolidierter Stadtstrukturen und im Grüngürtel um die Stadt (hauptsächlich Wienerwald und Donauauen). Informelle Urbanisierung ist also weit davon entfernt, in der Wiener Stadtgeschichte eine vernachlässigbare Größe zu sein und ist auch im europäischen Kontext von Bedeutung.
Räumungen blieben in Wien ein relativ seltenes Ereignis. Insgesamt wurden nur ca. 17% der für 1956 kartierten Siedlungsflächen geräumt. Ein „sanfter“ Legalisierungsprozess erstreckte sich von den 1960er bis in die 2000er Jahre. Formalisierung und infrastrukturelle Nachrüstung erfolgten stückweise, was häufig zu einem Flickenteppich von Rechtsstatus und städtischen Geweben führte. Die von den „wilden“ SiedlerInnen geschaffenen „vollendeten Tatsachen“ prägen nicht nur die Wohnvororte der heutigen Agglomeration, sondern hatten auch maßgeblichen direkten und indirekten Einfluss auf die Planungsinstrumente und das Vorgehen der Behörden.
Quellen:
Im Zuge des Projekts wurden amtliche Publikationen (Verwaltungsberichte, Rathauskorrespondenz etc.) sowie Fachliteratur (Der Aufbau etc.) und Publikationen der SiedlerInnen ausgewertet. Neben einer Analyse der gegenwärtigen Stadtstrukturen ermöglichte ein umfangreicher Fundus an Flächenwidmungsplänen, Stadtkarten, Plandokumenten und Luftbildern die Rekonstruktion der räumlichen und planungsrechtlichen Entwicklung. Die Forschungsarbeit wurde von der Stadt Wien (MA8, MA18, MA21, MA69) unterstützt.
- Fördergeber*innen