Links und rechts der Wiener Hauptstraßen
Phänomene, Beziehungen und Wechselwirkungen des straßenbegleitenden Stadtgewebes
Trotz gravierender gesellschaftlicher Umbrüche (Kriege, industrielle Revolutionen etc.) sind städtische Hauptstraßen stabile räumliche Elemente, die sich über Jahrhunderte in den Stadtkörper eingeschrieben haben. Als „Arterien der Stadt“ versammeln sie wichtige Infrastrukturen und prägen durch ihre inhärente Zentralität auch die weitere städtische Entwicklung. Vor dem Hintergrund von Mobilitätswende, Klimawandelanpassung sowie der Herstellung sozialer Raumgerechtigkeit besteht an diesen grauen Infrastrukturen besonderer Handlungsbedarf. Gleichzeitig bieten sie als Flächen im öffentlichen Besitz ein großes Transformationspotenzial – insbesondere in der gemeinsamen Betrachtung mit dem angrenzenden Stadtgewebe (Siedlungen, Freiräume, Gewerbezonen und anderen Assemblagen¹). Denn das straßenbegleitende Stadtgewebe fungiert als poröse Grenze² zwischen Straße und Quartier: Es ist Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Systemen der Stadt sowie Übergang von Funktionen und Aktivitäten der gesamtstädtischen Bedeutung bis zur lokalen Nachbarschaft. Somit spielt dieses Territorium eine bedeutende Rolle im urbanen Alltag, das in der bisherigen urbanistischen Forschung kaum Beachtung findet.
Trotz der städtischen Planungshoheit in Wien werden Hauptstraßen weiterhin als lineare Verkehrsbänder behandelt, wobei der Blick an der Grundgrenze endet und Neubauten sich offensiv vom Straßenraum abwenden. Statt einer Integration in das Stadtgewebe wird so die räumlich-funktionale Trennung von Straße und Quartier weiter zementiert. Die Forschungsarbeit überwindet diese isolierte Betrachtung von Straßenregelquerschnitten und untersucht die Wechselwirkungen zwischen Stadtgewebe und Straßenraum am Fallbeispiel Wien.
Um die Komplexität des straßenbegleitenden Stadtgewebes über verschiedene Maßstabsebenen hinweg zu untersuchen, bedient sich die Forschung unterschiedlicher Techniken der Situationsanalyse³. Dabei bilden Expert*innen-Gespräche, Promenadologie, städtebauliche und freiraumplanerische Analysen, Raumbeobachtungen sowie relationale Mappings⁴ im Sinne der kritischen Kartographie als Mixed-Methods-Ansatz die Basis einer rekursiven Multi-Site-Forschung.
Im Zentrum der Arbeit steht die Entwicklung stadtmorphologischer Raumtypen sowie die Analyse relationaler Beziehungen und Prozesse in ausgewählten Schlüsselräumen. Anhand der Überlagerung von Entanglements⁵ im Spannungsfeld von gebautem Raum, Funktionen und alltäglichen Handlungsmustern werden so die Eigenheiten, Herausforderungen und Potenziale des straßenbegleitenden Stadtgewebes herausgearbeitet und in ihrer Komplexität der Fachwelt zugänglich gemacht.
¹ Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1993): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie / Kapitalismus und Schizophrenie, Merve Verlag, Leipzig
² Vgl. Borders and Boundaries: Sennett, Richard (2020): The Public Realm. online unter: (02.04.2025)
³ Vgl. Situations-Maps, Social Worlds/Arena Maps: Clarke, Adele E. (2012): Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. SV Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
⁴ Vgl. Joint Spatial Display: Pelger, Dagmar (2021): Mappings als Joint Spatial Display. In: Heinrich, Anna Juliana at. Al. (2921): Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung, transcript Verlag, Bielefeld
⁵ Vgl. Verflechtungen: Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus Verlag GmbH, Weinheim