Co-existenz: Die Dokumentation. Zentralfriedhof
Zwischen Gräbern, Kleingärten und Großstrukturen.
- Herausgeber*innen
- Johannes Bretschneider
- Benni Eder
- Dorothee Huber
- Sebastian Sattlegger
- Ute Schneider
- Publikationsart
- Buch
- Verlag
- Forschungsbereich Städtebau und Entwerfen, Technische Universität Wien
- Erscheinungsjahr
- 2022
co-existence of cultural difference
co-existence of social difference ...
co-existence of city + hinterland
co-existence of city + infrastructure ...
Stadt ist idealerweise Ausdruck und Ort einer Co-existenz von Differenz und ihre Aufgabe, divergierende, teilweise kollidierende Systeme, in ein friedliches Nebeneinander bzw. Miteinander zu bringen. Sie ist Ergebnis unzähliger Aushandlungsprozesse, soll Raum für alle bieten und vor allem auch für diejenigen, die diesen komplexen Organismus Stadt operativ halten: ihn organisieren, bedienen, reinigen, ver- und entsorgen.
Zentralfriedhof
Friedhöfe sind mysteriös. Sie erinnern an Vergangenes und verweisen gleichzeitig auch immer auf die Zukunft. Mit Fortdauer unseres Lebens näheren wir uns ihnen mehr und mehr an. Ähnlich ergeht es unseren Städten. Die fortschreitende Ausdehnung des verbauten Stadtgebiets hat die im 19. Jahrhundert an die offenen Ränder der Städte verlegten kommunalen Friedhofsanlagen bereits wieder erreicht. Aus den ehemals peripheren Gegenden und Orten der Ruhe werden Naherholungsräume und zukünftige Zielgebiete der Stadtentwicklung. Dieses Studio beschäftigt sich mit einer dieser Gegenden und wir gehen am Beispiel des Wiener Zentralfriedhofs der Frage nach, welche alternativen Ordnungen und Konstellationen aus dieser widersprüchlichen Situation heraus entworfen werden können.
Der Zentralfriedhof wurde 1874, in Folge der aus hygienischen Gründen erfolgten Verbannung der Friedhöfe aus der dicht besiedelten Stadt, weit vor den Toren Wiens, jenseits des Linienwalls eröffnet. Man kann den Friedhof als einen der ersten Vertreter jener Infrastrukturen sehen, die als „störende“, aber für das Funktionieren der Stadt essenziell wichtige Funktion in die Peripherie ausgegliedert wurden. Eine Entwicklung die ab dem späten 19. Jahrhundert die gesamte Umgebung des Zentralfriedhofs prägen sollte. Hier vor der Stadt gab es zwar genügend Raum für die vielen Toten einer stark wachsenden Metropole, die Anlage in der Peripherie war jedoch bei den Wiener:innen von Beginn an unbeliebt. So sei das Gelände karg und schlecht erreichbar und der Weg dorthin, durch die stark transformierte und mit Infrastrukturen überbaute Heidenlandschaft, trostlos gewesen.
Bis heute werden hier Infrastrukturen und Funktionen angesiedelt, denen in der Stadt kein Platz eingeräumt wird, die jedoch zentrale Aufgaben für ebendiese übernehmen: Schlachtbetriebe, Hafen- und Industrieanlagen, Gasspeicher, Gleisanlagen und Rangierbahnhöfe, das größte Kraftwerk der Stadt, die Hauptkläranlage und die Hauptwerkstätte der Wiener Linien befanden bzw. befinden sich hier. Um dieses komplexe räumliche Geflecht zu verstehen, widmeten
wir uns im Rahmen des Entwerfens in einer ersten Phase dem Pionier dieser verbannten städtischen Ablagerungen – dem Zentralfriedhof. Denn durch gezielt eingesetzte planerische Interventionen wurde der anfangs unbeliebte, trostlose Ort zu einem morbiden Wahrzeichen der Stadt und erfüllt heute weit mehr als die ursprüngliche Funktion als Bestattungsplatz: er ist Repräsentationsort mit einer hohen (bau-)kulturellen Bedeutung, (besungene) Sehenswürdigkeit, Naherholungsgebiet, Spazier- und Laufstrecke und bildet, als grüne Insel inmitten intensiv genutzter Felder, Glashäuser und versiegelter Territorien, eine hochwertige ökologische Nische.
Vom Zentralfriedhof richtet sich der Blick im weiteren Verlauf des Entwerfens wieder auf dessen Ränder. Unterschiedliche Fragen begleiteten die Studierenden während des Semesters: Welche Rückschlüsse lassen sich aus der Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Zentralfriedhofs für einen dringend notwendigen neuen Umgang mit dem Patchwork an Versorgungs-, Entsorgungs- und Logistikinfrastrukturen ableiten? Welche neuen Rollen können Friedhofsareale im peri-urbanen Kontext übernehmen? Auf welche Art lassen sich historisch außerhalb der Kernstädte gelegene Friedhofsanlagen in wachsende Stadtlandschaften integrieren?
Befreit von den strengen Idealbildern traditioneller, homogener Stadträume und durchgeplanter, vermarktbarer Satellitenstädte erlaubt uns der Kontext einer noch rohen Peripherie eine ungeahnte Freiheit in unseren Überlegungen und Entwürfen. Lässt sich hier, am Rande der Stadt, aber noch nicht am Land, in diesem von Brüchen, Maßstabssprüngen und Widersprüchen geprägtem Territorium eine eigene städtebauliche Logik entwickeln?