Co-existenz: Die Dokumentation. Rautenweg
Zwischen Stadtrand, Müllbergen und Baggerseen.
- Herausgeber*innen
- Johannes Bretschneider
- Benni Eder
- Dorothee Huber
- Sebastian Sattlegger
- Ute Schneider
- Publikationsart
- Buch
- Verlag
- Forschungsbereich Städtebau und Entwerfen, Technische Universität Wien
- Erscheinungsjahr
- 2022
co-existence of cultural difference
co-existence of social difference ...
co-existence of city + hinterland
co-existence of city + infrastructure ...
Stadt ist idealerweise Ausdruck und Ort einer Co-existenz von Differenz und ihre Aufgabe, divergierende, teilweise kollidierende Systeme, in ein friedliches Nebeneinander bzw. Miteinander zu bringen. Sie ist Ergebnis unzähliger Aushandlungsprozesse, soll Raum für alle bieten und vor allem auch für diejenigen, die diesen komplexen Organismus Stadt operativ halten: ihn organisieren, bedienen, reinigen, ver- und entsorgen.
Rautenweg
Am Nordostrand Wiens erhebt sich an der Bezirksgrenze von Floridsdorf und Donaustadt im Archipel städtischer Infrastrukturen ein artifizieller Berg: die Deponie Rautenweg. Sie okkupiert wie viele andere Infrastrukturen in der Peripherie eine riesige Fläche des Stadtraums. Jahr um Jahr wächst dieser Berg aus den Rückständen verbrannten Mülls weiter an. Doch erklimmt kaum ein:e Bewohner:in jemals seinen Gipfel. Umgrenzt von Zäunen und bis ins Grundwasser reichenden Dichtwänden ist die Deponie hermetisch abgeriegelt.
Mit der zweiten Donauregulierung machte Wien unter dem Leitbild der autogerechten Stadt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts den Sprung über den Fluss. Heute sind die links der Donau gelegenen Bezirke 21 und 22 mit zusammen 360.0000 Einwohner:innen die zahlen- und flächenmäßig größten Bezirke Wiens und spielen eine zentrale Rolle bei der Aufgabe, der weiterhin anwachsenden Stadtbevölkerung Lebensraum zu bieten. Gleichzeitig sind sie ihrem peripheren Ruf nie ganz entkommen, worauf der umgangssprachlich weit verbreitete Begriff „Transdanubien“ verweist. Die Siedlungsstruktur wird mehr und mehr zur losen Agglomeration der Funktionen und Infrastrukturen, je weiter man sich der Stadtgrenze nähert.
Entlang des Rautenwegs hat sich eine heterogene Landschaft urbaner Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen herausgebildet, ein breiter Querschnitt typischer peripherer Programme: Mistplätze und Recyclingunternehmen, großflächiger Einzelhandel und produzierendes Gewerbe, Industrie mit teils riesigen Hallenstrukturen, Kleingartenanlagen, Einfamilienhaussiedlungen und nicht zuletzt landwirtschaftliche Flächen in großem Ausmaß. Ist man zu Fuß unterwegs wird sofort spürbar: hier gelten andere Spielregeln der Stadtentwicklung als auf der rechten Donauseite.
Die Mülldeponie Rautenweg nimmt als einzige kommunale Deponie eine zentrale Stellung im Abfallkonzept Wiens ein. Sie umfasst ein Areal von 58 ha und war ursprünglich eine Schottergrube, auf der seit den 1960er Jahren die Ablagerung von Abfällen erfolgte. Nach gegenwärtigem Planungsstand wird sie mit 75 Metern im Jahr 2065 die höchste Erhebung der Donaustadt darstellen. Die Deponie wirft vor dem Hintergrund von Klimawandel, Mobilitätswende und Digitalisierung Fragen nach städtischer Ökonomie (Recycling, Kreislaufwirtschaft) auf. Als ökologische Nische bietet sie heute bereits Lebensraum für bedrohte Tier und Pflanzenarten. Diese Funktion und ihre Lage machen sie zu einem potentiellen Baustein in Wiens grüner Infrastruktur. Nördlich an die Deponie grenzt der ehemalige Verschiebebahnhof Breitenlee an. Die von der Natur zurückeroberte Gleisanlage ist heute wesentlicher Bestandteil des Vorhabens, einen Wald- und Wiesengürtel als Grün- und Erholungsraum um die Stadt zu schließen.
Dieser hätte das Potential, weiterer Zersiedelung und Fragmentierung des Stadtraums als zusammenbindendes und identitätsstiftendes Element entgegen zu wirken.
Nicht zuletzt übernimmt die Deponie auch eine symbolische Funktion: Schicht um Schicht wächst ein Berg aus der Schlacke verbrannten Mülls der Wiener Haushalte und stellt somit ein interessantes Element einer „unbewussten kollektiven Identität“ der Bevölkerung dar, in der wohl jede:r Einwohner:in der letzten Jahrzehnte Spuren hinterlassen hat.
Künstliche Berge dienen auch als Sehnsuchtsräume. Es gibt sie in vielen Städten. Sie beflügeln die Fantasie und wandeln sich in ihrer Bedeutung. Als ein prominentes Beispiel kann der Berliner Teufelsberg genannt werden, der aus den Trümmern der im 2. Weltkrieg zerbombten Stadt als von Menschenhand geschaffener Berg errichtet wurde und nach seiner zwischenzeitigen Nutzung als Standort einer Flugüberwachungs- und Abhörstation im kalten Krieg heute als Natur- und Naherholungsraum dient und tief im kollektiven Bewusstsein der Bewohner:innen verankert ist. In Kopenhagen wurde die Müllverbrennungsanlage „Amager Bakke“ von Beginn an als künstlicher Berg, als ein Hybrid aus technischer Funktion und Naherholungsraum geplant und umgesetzt. Das beweist: technische Infrastrukturen können den Stadtraum bereichern und intensive Synergien zwischen (künstlicher) Landschaft und Gebäuden eingegangen werden.