Zukunftsräume für Dietramszell
Vom Leben auf dem Land
- Editors
- Sebastian Sattlegger
- Elisabeth Leitner
- Publication type
- Book
- Publisher
- Research unit of Urban Design, Technische Universität Wien
- Release year
- 2021
Im Sommersemester 2021 stellten wir – eine Gruppe von 16 Studierende des Masterstudiums Architektur und zwei Lehrende des Forschungsbereichs Städtebau der TU Wien – uns im Rahmen der Lehrveranstaltung „Vom Leben auf dem Land – Zukunftsräume für Dietramszell“ die Frage: wie schaut das Leben auf dem Land in der Zukunft aus?
Herzstück der Lehrveranstaltung bildete ein Entwurfsworkshop, vom 9. bis zum 16. Juli, vor Ort in Dietramszell. Als Vorbereitung darauf analysierten wir im März und April die Gemeinde und die umliegende Region auf verschiedensten Ebenen und nach unterschiedlichen Themenbereichen. Im Mai wurde eine Vielzahl an Interviews geführt und so lernten wir Dorfbewohner*innen und ihre jeweiligen Lebenswelten, Vorstellungen, Vorlieben und Alltagswege kennen. Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit wurden in einem eigenen Exkursionsreader zusammengefasst, der uns während des Workshops als Arbeitsmittel und Nachschlagewerk diente. In der vorliegenden Publikation, die gewissermaßen die Fortsetzung des Exkursionsreaders bildet, sind die Ergebnisse und Impressionen von unserem Aufenthalt dokumentiert.
Schon die individuelle Anreise nach Dietramszell stellte für manche die erste Herausforderung dar: die öffentlichen Verkehrsverbindungen im ländlichen Raum sind anders getaktet als im gewohnten, städtischen Umfeld und Informationen aus dem Internet stimmen nicht immer mit der Realität überein. Den offiziellen Start des Workshops bildete eine Bus-Rundfahrt durch das weitläufige Gemeindegebiet. Bürgermeister Josef Hauser, Ragna Prantner, Sebastian Beham, Ludwig Gröbmeier und Karl März erläuterten uns bei der Tour durch die vielen Orte und Weiler den sozial- und funktional-räumlichen Kontext und wiesen die Studierenden auf mögliche Forschungs- und Entwurfsthemen hin. Nach diesem ersten Eindruck wurden die Unterkünfte bezogen. Beinahe die ganze Gruppe nächtigte im Schullandheim Bairawies, manche folgten aber auch der Einladung von Gastfamilien. Dank gebührt hier der Gemeinde Dietramszell, die die Unterkunft organisierte und finanzierte bzw. den Familien Köster, Bigott und Beham für ihre Gastfreundschaft. Der erste Tag fand einen stimmungsvollen Ausklang bei einer Grillerei im Garten des Schullandheims. Zusätzlich zu den Begleiter*innen der Bus-Rundfahrt gesellten sich noch einige andere Dietramszeller*innen spontan dazu. In lebendigen Gesprächen wurde uns, neben weiteren wertvollen Informationen zu Dietramszell, auch mitgeteilt, dass am nächsten Tag ein Maibaumaufstellen geplant war.
Diese einmalige Begebenheit eines Corona-bedingt im Juli stattfindenden Maibaumaufstellen veranlasste uns dazu den Workshop-Zeitplan zu ändern. So saßen wir tags drauf bei herrlichem Sonnenschein am Dorfplatz von Humbach und beobachteten die gemeinschaftlichen Anstrengungen. Als die Leute dann zum Feiern übergingen, bezogen wir unser Atelier – so nannten wir den uns zur Verfügung gestellten Arbeitsraum im Pfarrheim St. Martin fortan – und starteten mit unserer Arbeit. In einer Diskussionsrunde tauschten wir die ersten Eindrücke aus. Darauf aufbau- end waren die Studierenden aufgefordert Gruppen zu bilden und Themen bzw. Projektansätze zu definieren.
Die folgenden fünf Tage folgten alle dem gleichen Schema: wir trafen einander um 9 Uhr in unserem Atelier. Permanent gab es Austausch und Diskussionen innerhalb der Gruppe und zumindest ein Mal pro Tag, meistens jedoch öfter, Feedback von Seiten der Lehrenden. Die Studierenden waren selbständig im Gemeindegebiet unterwegs um ihre Projektgebiete genau zu untersuchen, Gespräche zu führen, Bildmaterial zu sammeln und laufend ihre Ansätze mit dem realen Kontext abzugleichen. Auffallend viele Bewohner*innen folgten der Einladung uns in unserem offenen Atelier zu besuchen, die sowohl in der Gemeindezeitung abgedruckt, als auch auf Plakaten im Gemeindegebiet verteilt war und die wir zusätzlich auf zwei großen Transparenten an der Fassade unseres Ateliers angebracht hatten. Die Dietramszeller*innen verwickelten die Studierenden in Gespräche, gaben spontan Kommentare zu den gerade entstehenden Projekten ab oder schmökerten in einem der vielen Bücher, die im Atelier auflagen.
Neben der Arbeit an den Projekten war auch Zeit um bei Abendspaziergängen die schöne Kulturlandschaft des Alpenvorlandes kennenzulernen, Ausblicke auf die Alpen zu genießen, die vielen Güterwege im Gemeindegebiet per Rad zu erkunden, am Abend mit einer Kiste Bier in den Isar-Auen einen arbeitsintensiven Tage Revue passieren zu lassen oder beim Finale der Europameisterschaft – unterschiedlich intensiv – mitzufiebern.
Gegen Ende der Workshop-Woche wurden die Arbeitstage länger und die Lichter in unserem Atelier gingen manchmal nur noch für eine kurze Zeit in den frühen Morgenstunden aus. Pünktlich am Freitag um zehn Uhr druckte der Plotter im Architekturbüro von Ragna Prantner dann die ersten Ausstellungsplakate. Zeitgleich wurden die letzten Folien der Präsentationen fertiggestellt, der Arbeitsraum aufgeräumt und in einen Veranstaltung- und Ausstellungsraum transformiert. An den Wänden hing ausgewähltes Arbeitsmaterial aus dem Workshop und natürlich die fertigen Projektplakate. Die Studierendenprojekte wurden durch unseren Büchertisch ergänzt, der, wie in den Tagen davor schon, auch am letzten Nachmittag das Schmökern in spannenden Büchern ermöglichte. Auf einem weiteren Tisch wurden mehr als zwanzig Fotos, die im Rahmen eines Fotowettbewerbs eingereicht wurden präsentiert und später prämiert. Unsere Veranstaltung, an der im Laufe des Nachmittags über 60 Personen teilnahmen fand in einem stimmigen Rahmen statt.
Nach den Begrüßungsworten von Bürgermeister Josef Hauser und Josef Mathis, der als Vertreter des Projektes „Baukulturregion Alpenvorland“ die Veranstaltung moderierte, präsentierten die Studierenden ihre sieben Projekte und standen für Fragen zur Verfügung. Die Beiträge der Studierenden boten einen frischen Blick auf bekannte Themen und Orte und sollen als Impuls für zukünftige Schritte dienen.
Das Projekt „Richtungswechsel“ (siehe S.28) beschäftigt sich mit der Mobilität in Dietramszell und zeigt wie durch das Angebot alternativer und geteilter Fortbewegungsmittel und die Etab- lierung von Mobilitätsknotenpunkten der Verkehr in der Gemeinde ökologischer und multimodal organisiert werden könnte. Zwei Projekte setzten sich mit Nachnutzungskonzepten für bereits bzw. bald leerstehende Gebäudekomplexe auseinander. Für das Hallenbad in Ascholding wurden mit dem Projekt „Ob‘zapft is!“ (siehe S.36) mögliche zukünftige Nutzungen, als Alter- native zum Abriss, aufgezeigt. Für die alte Molkerei in Baiernrain mit dem Projekt „Der fliegende Imker in der Molkerei“ (siehe S.46) entwickelten zwei Studierende ein Nachnutzungskonzept, das neben alternativen Wohnformen, unter anderem Veranstaltungsflächen und Co-working-Plät- ze umfasst. Ob eine Ortsgestaltungssatzung der richtige Weg ist, die Baukultur in Dietramszell zu fördern und wie Alternativen dazu aussehen könnten wird im Projekt „Mitgestalten, Baukultur entfalten“ (siehe S.56) thematisiert. Mit dem vieldiskutierten Thema des Aussehens, der Dimensionierung und Positionierung von Ställen und landwirtschaftlichen Betriebsgebäuden beschäftigte sich das Projekt „ge STAL(L) tung“ (siehe S.64). Das Thema Leerstand wurde im Projekt „[Un]·Bewohnt“ (siehe S.78) unter die Lupe genommen und unter dem Titel „Dietramszell steht Kopf“ (siehe S.91) konzentrierten sich drei Studierende auf die Gestaltung des Zentrums von Dietramszell und den dort vorgesehenen Geschichtspfad.
Die Rückmeldungen aus dem Publikum waren durchwegs positiv, das eine oder andere Mal wurden die Beobachtungen der Studierenden durch Kommentare der anwesenden Gäste bekräftigt oder durch weitere Aspekte ergänzt. An die Entscheidungsträger*innen wurde die Aufforderung formuliert, die Ergebnisse nicht in der Schublade verschwinden zu lassen, sondern sie gemeinsam weiterzuentwickeln und weiter zu diskutieren. Nach den Präsentationen gab es einen lebendigen Austausch und als weiterer Höhepunkt nutzten engagierte Dietramszeller*innen diesen Anlass um die Arbeitsgemeinschaft „Baukultur“ zu gründen. Tags darauf wurde unter anderem in der Süddeutschen Zeitung sehr wohlwollend von dem Nachmittag berichtet.
Auf den folgenden Seiten können Sie im Fotoessay schmökern und sich so ein Bild machen wie facettenreich unsere Workshopwoche in Dietramszell war und wie viele Dorfbewohner*innen sich beteiligt haben. Im anschließenden Kapitel sind die sieben Projekte dokumentiert, sie wer- den beschrieben und die Argumente durch Grafiken und Illustrationen verdeutlicht. Anschließend fassen wir unsere Erfahrungen zusammen und bedanken uns bei allen Mitwirkenden.
Wir wünschen Ihnen beim Durchblättern dieser Broschüre, dass Sie vielleicht bestimmte Aspekte in einem neuen Licht sehen und dazu inspiriert werden neue Ideen für Dietramszell zu denken und sich für die qualitätsvolle Entwicklung Ihres Lebensraumes gerne einsetzen wollen.