Wien Radial!
Die Wiener Ausfallstraßen als Potenzial- und Konflikträume
- Authors
- Clara Linsmeier
- Bernhard Mayer
- Sebastian Sattlegger
- Publication type
- Book contribution
- Release year
- 2023
- Published in
- Image
- © Theresa Tengg, Hannes Schachner, Sarah Bernhard
Wien verkörpert ein beinahe perfektes Beispiel eines radial-konzentrischen Stadtmodells, zumindest rechtsseitig der Donau. Über Jahrhunderte haben sich die wichtigsten Straßenzüge der Metropole permanent in das Territorium eingeschrieben. Orientierte sich die Entwicklung der Stadt zunächst maßgeblich an den radial auf das Zentrum zulaufenden Wegeverbindungen, gewannen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts jedoch die konzentrischen Verkehrswege an Relevanz. Das Aussehen, die Nutzung und die Bebauung entlang der Straßen und damit die Beziehung der Stadträume zu den Verkehrsachsen haben sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte stark verändert. Steigende Geschwindigkeiten und die Entwicklung neuer Verkehrsmittel ließen das ursprünglich als „servant“ der Stadt angedachte Verkehrssystem zum beherrschenden „master“ werden (Sieverts, 2013, S. 7): Ein ausgeklügeltes, auf die Transportfunktion spezialisiertes Hochleistungssystem, das dadurch jedoch jeglichen Bezug zum städtischen Kontext verloren hat (Sieverts, 2013, S. 7–8). Aus alten, historisch gewachsenen Verkehrsachsen wurden komplexe Räume der Mobilität. Heute verlaufen entlang der großen radialen Straßenzüge Fahrbahnen, Busspuren, Gehsteige, Schienenstränge und Radwege neben-, überund untereinander und verbinden damit Räume, Milieus und Lebensrealitäten der Stadtregion.
Unter dem Druck der Produktion von leistbarem Wohnraum dehnt sich die Stadt derzeit flächenmäßig ins Umland aus. Unter großem finanziellen und materiellen Aufwand müssen die Stadterweiterungsgebiete mit neuen Infrastrukturen an die Bestandsstadt angebunden werden. Gleichzeitig ist eine Veränderung im Mobilitätsverhalten zu beobachten: Neue Verkehrsträger, ein sinkender Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) am Gesamtverkehrsaufkommen oder etwa die Einführung der flächendeckenden Parkraumbewirtschaftung lassen neue Rahmenbedingungen für die Verkehrsplanung der Stadt erahnen. Im Hinblick auf die negativen Auswirkungen des Verkehrssektors auf das Klima, die Umwelt und die Gesundheit der Stadtbewohner:innen gilt es, die Anstrengungen, unsere Mobilität nachhaltiger zu gestalten, weiter zu verstärken (VCÖ Mobilität mit Zukunft, 2015, S. 29–33). Neben der Wegeverlagerung auf nachhaltige Mobilitätsmodi steht die Wegevermeidung im Zentrum der strategischen Ziele der Stadt. Die räumliche Logik Wiens soll sich in Zukunft radikal ändern: Aus einer monozentralen Stadt mit großen auf das Zentrum zulaufenden Achsen soll sich eine polyzentrische Metropolregion entwickeln (STEP 2025. Fachkonzept. Mittelpunkte des städtischen Lebens, 2020, S. 32).
Diese veränderten Rahmenbedingungen weckten unser Interesse an den Transformationsprozessen der vielfältigen Stadträume, die die radialen Verkehrsachsen flankieren und veranlassten uns – eine Gruppe von Lehrenden und Studierenden am Forschungsbereich Städtebau der TU Wien – zur Auseinandersetzung mit den großen radialen Straßenzügen Wiens. Mittels räumlicher Analysen, spekulativer Entwürfe und wohlüberlegter Interventionen untersuchten wir die Potenziale der radialen Stadträume für die zukünftige Stadtentwicklung. Ein genauer Blick auf die Stadtlandschaft entlang der Wiener Ausfallstraßen gibt jene verborgenen Raumreserven preis, deren Standortvoraussetzungen durch die Änderung unseres Mobilitätsverhaltens in Zukunft anders bewertet werden müssen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Suche nach einem Umgang mit diesen schlummernden Reserven entlang bestehender Mobilitätsinfrastrukturen als Alternative zur weiteren flächenmäßigen Ausdehnung der Stadt.