Wilde Siedlungen und rote Kosakendörfer
Zur informellen Stadtentwicklung im Wien der Zwischenkriegszeit
- Authors
- Friedrich Hauer
- Andre Krammer
- Publication type
- Book contribution
- Release year
- 2019
- Image
- © Georg Gerlach
Die US-amerikanische Journalistin Solita Solano besuchte im Jahr 1922, auf dem Höhepunkt der Hyperinflation, Wien. Sie gab ihrer für das National Geographie Magazine verfassten Reportage den vielsagenden Titel Vienna - A Capital Without a Nation. Großen Raum widmet sie darin dem sozialen Elend in einer Stadt, deren Bevölkerung noch Jahre nach dem Kriegsende von Hunger, Kälte, Krankheit, Wohnungselend und den traumatischen Erfahrungen an der Front und auf der Flucht gezeichnet war. Besonderes Interesse zeigt sie auch an einem ungewöhnlichen stadträumlichen Phänomen: "Am Rand der Stadt trifft die Reisende auf seltsame kleine Gartenflecken, jeder mir einem notdürftigen Zaun und einem Holzbau, der wie das Spielhaus eines Kindes aussieht. Frauen und Kinder jäten Unkraut und tragen Wasser. Sie verschwenden keinen Boden durch Wege, sondern treten vorsichtig zwischen die Pflanzen. […] Die Reisende erfährt, dass sich diese Gartensiedlungen endlos dahinziehen. Sie umgeben die Stadt wie ein zerlumpter Gürtel und sind das Resultat einer Wohnungsnot, die tausende Familien dazu getrieben hat, hier in Hütten zu leben […]."
Solano beschreibt eine bauliche Entwicklung, die trotz ihrer oft peripheren Lage keine Randerscheinung mehr war. Vor dem Hintergrund des umfassenden Bankrotts der Vorkriegsordnung und des Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie hatten sich Zehntausende, getrieben von purer Not, ihr Recht auf Stadt genommen. Wilde Rodungen, Selbstversorgergärten und Siedlungen fraßen sich, wie Otto Bauer es ausdrückte, "um alle Eigentumsrechte unbekümmert" in die Donauauen, den Wienerwald und in die Äcker am nördlichen und südlichen Stadtrand. Auch Brachen im Spekulationsvorfeld der gründerzeitlichen Blockrandbebauung, Industrie- und Bahnareale, Ziegelgruben oder Exerzierplätze wurden besetzt und urbar gemacht. Dieser informelle Entwicklungsschub ist in seiner Breite für eine europäische Metropole im 20. Jahrhundert außergewöhnlich. Er sollte sich in reduziertem Umfang in der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholen und das räumliche Gefüge Wiens bis heute maßgeblich mitbestimmen.